
Männerdämmerung

Ein Text über Toleranz, das Toleranzparadoxon, toxisches Verhalten, eine korrekte Einordnung von Grenzen und generelle Werte in einer Zivilisation.
Was war passiert?
Thomas Gottschalk beklagt, es sei schlimm für ihn, inzwischen zuerst nachdenken zu müssen bevor er etwas sage.
(Komme später zur Einordnung).
Nachdenken bevor man spricht? Was ist das denn für ein wildes Konzept?🙄
"Heute ist es so, dass ich erst einmal nachdenke, bevor ich etwas sage", klagt Thomas Gottschalk im "Kölner Treff".
"Für mich ist das schlimm".— Mel Aura (@mel__aura) 12. Oktober 2024
Ich beklage die Selbstbesoffenheit und das Ausmaß der Reflexionsunfähigkeit von Menschen wie ihm.
Es macht mich vollkommen fertig, wie manche Menschen nicht einmal im Traum darauf kommen könnten, dass ihr eigenes Verhalten vielleicht einfach abartig ist oder war. Wie hardcore selbstbesoffen und reflexionsinkompetent kann man eigentlich sein?
— Benjamin Stork #Antifa #Woke 🌈📯 (@benjamin_stork) 12. Oktober 2024
Ich bekomme eine Reply, die das „wahre Problem“ bei dem Übermaß an Rücksicht gegenüber Andersdenkenden sieht.
Ich denke ich verstehe den Gedanken dahinter, kann ihm aber in letzter Konsequenz nicht zustimmen.
Ein bisschen Selbstreflexion wäre bei dir nicht unangepasst. Diese Opfermentalität und Überempfindlichkeit gegenüber Andersdenkenden ist das wahre Problem. Was für dich wie moralische Überlegenheit aussieht, ist in Wahrheit Schwäche.
Den Preis dafür bezahlst du selbst.— flighttosafety (@flighttosafety) 13. Oktober 2024
Ja, zu viel(!) Rücksicht gegenüber anderen macht einen selbst zum Mr. Nice-Guy ohne Anspruch auf die Erfüllung eigener Interessen oder Bedürfnisse. Den Preis hierfür zahlt man tatsächlich selber.
In einer Gesellschaft die auf Egoismus und Rücksichtslosigkeit beruht wird das, wie schon in meiner Antwort gesagt, umso deutlicher.
Aber ist das schon das Ende der Überlegungen?
Ein kurzer Exkurs:
Was unterscheidet uns Menschen der Gegenwart von unseren fernen Vorfahren bzw. was hat es uns als Spezies überhaupt ermöglicht, unsere Intelligenz und eine Zivilisation zu entwickeln?
Die Antwort lautet: Kooperation und Spezialisierung. Dafür braucht es das Bewusstsein für Diversität sowie den Respekt vor selbiger.
Denn unsere Verschiedenheit kann nur dann zu einer gesellschaftlichen Stärke, zu einem (Überlebens-) Vorteil werden, wenn es andere Menschen um uns gibt, die erstens von unserer Spezialisierung profitieren und zweitens unser eigenes Bedürfnis nach Sicherheit und Nahrung erfüllen können.
Damit das funktioniert, braucht es neben Akzeptanz für die Verschiedenheit auch Respekt gegenüber den anderen. Es gibt Spezialisierungen, die können notfalls unabhängiger sein als andere. Der Bauer überlebt im Zweifel länger als der Schuster, einfach, weil er Nahrung anbaut, während der Schuster, ganz alleine auf sich gestellt, verhungern würde.
Eine sehr frühe Aufgabenteilung fand statt bei den Jägern und Sammlern – wie die Bezeichnung schon verdeutlicht. Es waren zumeist die Männer, die loszogen um zu jagen, um die Nahrung zu beschaffen, während zumeist die Frauen die Höhle hüteten und auf den Nachwuchs aufpassten.
Unsere Evolution hat uns ausgestattet mit Fähigkeiten auch in schwierigen Situationen zu überleben.
Dazu gehören neben der erwähnten Errungenschaften der Zivilisation die Fähigkeit zum Egoismus, ein Bewusstsein für den eigenen Vorteil sowie für Macht gegenüber Schwächeren.
Zu den „Schwächeren“ gehören auch die im Sinne der Kooperation abhängigeren. So hatten schon früh die Männer als Beschaffer der Nahrung eine gewisse Macht gegenüber den Frauen. Nicht nur wegen körperlicher Überlegenheit, sondern auch aus ihrer Rolle heraus.
Es ist ein Teil von uns, uns dieser Macht bewusst zu sein. Es ist ein Teil von uns, dem Drang dieser Macht nachzugeben, sich zum eigenen Vorteil dazu verleiten zu lassen, andere auszunutzen. Das diktiert uns unser sehr archaischer Überlebensinstinkt.
Nun ist es in unserer aktuellen zivilisierten Gesellschaft ungleich komplizierter als zu früheren Zeiten. Wir müssen uns nun auch an Regeln des Zusammenlebens halten. An Regeln, welche die Zivilisation selbst hervorgebracht hat, aber auch an Regeln der sozialen Interaktion und Teilhabe.
In unserer hochdiversifizierten Gesellschaft sind wir auf Zugehörigkeit zwingend angewiesen. Sie ist überlebenswichtig. Zugehörigkeit erfordert Akzeptanz der anderen. Hier kommen evolutionär eher jüngere Errungenschaften wie Schamgefühl ins Spiel, welches uns vor Ausgrenzung schützen soll.
Scham soll uns davor bewahren in einer gesellschaftlichen Konstellation, auf deren Akzeptanz wir angewiesen sind, aus der Rolle zu fallen und schlimmstenfalls ausgegrenzt zu werden. Scham kollidiert mit dem zuvor angesprochenen Machtbewusstsein, welches uns andersherum ermöglicht, eigene Interessen kompromissloser durchzusetzen in gesellschaftlichen Konstellationen, die auf unsere Akzeptanz angewiesen sind. Die „schwächer“ sind.
Platt ausgedrückt: je mächtiger man ist, desto mehr kann man Arschloch sein ohne soziale Konsequenzen befürchten zu müssen.
In unserer noch immer sehr patriarchal dominierten Gesellschaft liegt mehr Macht bei den Männern bzw. nehmen sich viele Männer noch immer mehr Macht heraus.
Sie sind sehr viel rücksichtsloser als Frauen und haben oft sehr viel weniger Schamgefühl in Bezug auf ihr eigenes Verhalten.
Solche Männer nehmen sich Verhaltensweisen gegenüber anderen heraus, die sie gegenüber sich selbst niemals dulden würden. Das ist der Inbegriff von Toxizität.
Um kurz zum Eingangsbeispiel zu kommen. Wie hätte Thomas Gottschalk wohl reagiert, wenn er im Fernsehen auf der Bühne von einem nicht sonderlich attraktiven alten Sack grenzwertig betatscht worden wäre?
Wie würde Thomas Gottschalk sich wohl fühlen, wenn er mit einem nicht sonderlich attraktiven alten Sack alleine in einem Fahrstuhl steht und der plötzlich anfängt, ihm ungefragt Kommentare zu seinem Hintern oder der Beule in seiner Hose zu geben?
Das wäre wohl auch für ihn eine eher unangenehme Situation.
Wieso ist es dann andersherum für diese alten weißen Männer so schwierig, ihre eigene Rolle zu erkennen und die Interessen ihrer Mitmenschen, die sich im Grunde nicht von ihren eigenen unterscheiden, zu respektieren?
Die Antwort lautet wohl: gefühlter Machtverlust.
Denn wenn man sein Leben lang daran gewöhnt war, seine eigene Macht zu missbrauchen, die Interessen der Mitmenschen regelmäßig zu missachten und nie negative Konsequenzen für das eigene toxische Verhalten erdulden musste, ist man mit der Gegenwart wohl überfordert.
Menschen, die genügend intellektuelle Kapazität mitbringen, könnten einmal die Perspektive wechseln und ihre eigene Rolle betrachten. Gelingt dies auch alten weißen Männern, wären sie in der Lage, ihren Platz in der Geschichte zu erkennen sowie die sich verändernde Gesellschaft.
Die alten, toxischen Machtstrukturen werden aufgebrochen, früher selbstverständliche Rücksichtslosigkeit nicht länger hingenommen, der Versuch einer Fortsetzung des Machtmissbrauchs wesentlich deutlicher geächtet.
Der Umgang unter Menschen der Gegenwart wird respektvoller – was sich sofort ein bisschen wie Hohn anhört, hat man doch den Eindruck, der Umgang wird wesentlich rauer. Das ist das Aufbäumen aller Gestrigen, die sich den so bequemen Machtmissbrauch nicht nehmen lassen wollen.
Denn respektvoller Umgang mit Mitmenschen setzt ein gewisses Feingefühl voraus sowie eine grundsätzlich gefestigte Persönlichkeit. Wer sich seiner selbst sicher ist, muss seine Unsicherheit nicht kompensieren. Die charakterlich Schwächsten machen das auf Kosten ihrer Mitmenschen.
Damit ist das Aufbäumen der alten weißen Männer gegen eine progressive, respektvollere Gesellschaft im Grunde ein verzweifelter Aufschrei der Schwachen. Sie sind in ihrem sozialen Repertoire so eingeschränkt, dass sie den Wert von Rücksicht nicht erfassen können. Es geht sogar darüber hinaus. Sie sind so vertraut mit ihrem eigenen Verhalten des Missbrauchs ihrer Macht und den unzähligen Vorteilen, die sie selbst in ihrem Leben davon hatten, und sie sehen in einem Ende dieses Missbrauchs nur die Nachteile, die sie selbst davon haben, dass sie sich vor jeder Veränderung fürchten. Und da kleine Geister üblicherweise von sich auf andere schließen, muss das natürlich für jeden Menschen gelten. Deswegen misstrauen sie grundsätzlich dem Gedanken der Rücksicht.
Und ja, falsche Rücksicht ist tatsächlich ein Problem, macht sie es doch den kleinen gestrigen Geistern allzu leicht, ihre eigene charakterliche Schwäche auch weiter durch Machtmissbrauch zu kompensieren. Das aber grundsätzlich mit Rücksicht gegenüber Andersdenkenden gleichzusetzen ist nur der Versuch, die Vormachtstellung des Machtmissbrauchs als einzig legitime Gesellschaftsform zu zementieren.
Das wäre ein Paradebeispiel für das Toleranzparadoxon. Wir leben in einer Gesellschaft, die ihr Selbstbewusstsein entdeckt.
In einer Gesellschaft aus Menschen, die den Wert von Respekt, von Grenzen, von Selbstbestimmung, von wahrer Freiheit entdecken. In einer solchen Gesellschaft haben antiquierte Strukturen des Machtmissbrauchs keinen Platz mehr.
Ließen wir diesen Menschen diesen Platz, würden wir uns selbst, unser Selbstbewusstsein schon im Keim verraten. Unsere Rücksichtnahme gegenüber unseren Mitmenschen ist unsere größte Stärke. Rücksichtnahme erfordert aber auch deutliche Grenzen. Persönliche Grenzen, die zu respektieren Kern der modernen Gesellschaft ist.
Alte weiße Männer waren es ihr Leben lang gewohnt, diese Grenzen wie selbstverständlich zu missachten.
Es wäre völlig übertriebene, an Selbstverleugnung grenzende Rücksichtnahme, dieses Verhalten länger zu dulden.
Fazit: Rücksichtnahme generell wirkt für all jene wie das „wahre Problem“, die ihr Verhaltensmodell des Machtmissbrauchs in Gefahr sehen. Das wirkliche wahre Problem an Rücksichtnahme wäre zu viel Rücksichtnahme gegenüber diesen Menschen.
Nachtrag: ich bin in meinen Überlegungen davon ausgegangen, dass es allgemeingültige soziale Regeln gibt wie „Respekt vor den Grenzen anderer“. Falls dies für manche zu hoch sein sollte, oder sie dem vielleicht nicht zustimmen wollen, können wir uns ja vielleicht darauf einigen, dass man andere nicht so behandelt, wie man selbst nicht behandelt werden möchte, ja? Denn dann ergibt sich der Respekt vor den Grenzen anderer ganz automatisch.
Die Freiheit jedes einzelnen Menschen endet dort wie die Grenzen eines anderen beginnen.
Dass Menschen wie Gottschalk das nicht klar zu sein scheint und er das Feedback zu seinem oft grenzverletzenden Verhalten nicht als Anlass nimmt, sich einmal selbst zu hinterfragen, sondern die Schuld ausschließlich bei anderen sucht und sieht, sagt viel über ihn aus.
Über ihn und über alle anderen, die ihn verteidigen und sich selbst bedroht fühlen von einer Gesellschaft, die sich einfach nicht mehr alles von ihnen gefallen lässt.
Und um einmal zum Ausgangspunkt zurückzukommen und zur Antwort auf meine Antwort.
Ich würde dir das abnehmen, wenn diese Rücksicht auch Andersdenkende aus anderen politischen Spektren (wie z.B. Gottschalk) einschliessen würde.
Du streichelst hier aber einfach nur dein Ego mit Fantasien moralischer Überlegenheit. Deine Rücksicht ist selektiv.— flighttosafety (@flighttosafety) 13. Oktober 2024
Ich finde es erstaunlich, dass es als „Zurschaustellung eigener moralische Überlegenheit“ verstanden wird, wenn man auf das Problem der traditionellen Grenzverletzung hinweist. Und wieder wird das Toleranzparadoxon verlangt. Es wird verlangt, dass eine Gesellschaft, dass Mitglieder dieser Gesellschaft denen gegenüber Toleranz zeigen, die ihre Grenzen missachten.
Nein.
Und es ist keine moralische Überlegenheit, auf das Fehlverhalten anderer hinzuweisen und dieses als solches zu benennen. Ich nenne das Anstand.
Schlimm genug, dass man sich von Anstand bedroht zu fühlen scheint. Das alleine wäre für mich schon ein Alarmsignal, mich dringend einmal selbst zu hinterfragen. Aber wir haben ja schon festgestellt, dass diese Fähigkeit nicht jedem gegeben ist.