Die Entzauberung des Abendlandes
Ich frage mich, wie man in 50 oder in 100 Jahren wohl über Edward Snowden wird lesen können. Wird man seinen Namen noch kennen?
Ob und wie die Geschichte ihn in Erinnerung behalten wird, hängt auch maßgeblich davon ab, was jetzt in unserer Gegenwart in den nächsten Wochen und auch Jahren geschieht – auch in Bezug auf die durch eben jenen Edward Snowden losgetretenen Enthüllungen.
Sind wir mal ganz ehrlich. Dass die NSA uns alle überwacht, alles mitliest, alles mithört, von jedem von uns unsere geheimsten Fantasien kennt, überrascht jetzt nicht wirklich jemanden, oder? Doch? Nun, falls doch: willkommen in der Entzauberung des Abendlandes. Unsere Politiker… nein, ich mag sie so eigentlich nicht nennen, weil ein „Politiker“ etymologisch betrachtet ein Volksvertreter ist… unsere Volksverräter, also jene, die sich unverschämterweise erdreisten, sich als Volksvertreter auszugeben, haben ihr perfides, widerwärtiges Spiel so gut gespielt, dass es in diesem Land wirklich viele Menschen gibt, die jetzt tatsächlich überrascht und auch entsetzt sind wegen der jüngsten Enthüllungen. Wenn selbst „der engste und stärkste und mächtigste und freieste und vorbildlichste Verbündete“ und „große Bruder“ – die U.S.A. – Deutschland als mögliches Angriffsziel betrachtet und sich gleichermaßen erschreckenderweise als macht- und geldgieriges, am Ende gar von der großen Wirtschaft ferngesteuertes Monster herausstellt, dann passt das eben nicht zu dem Bild, das uns RTL, Merkel, Obama und alle anderen so wunderschön vorkauen. Aber eben genau so ist es. Und zwar nicht erst seit heute oder gestern, sondern schon sehr lange. Diese ignorante Blindheit des Großteils der Menschen gegenüber den offensichtlichsten Missständen hat die Welt bereits mehrere Male ins Verderben gestürzt. Und wir sind gerade abermals auf dem allerbesten Weg in ein weiteres solcher Kapitel.
Glaubt denn ernsthaft hier noch irgendjemand, die Merkel würde im Interesse der Bürger handeln? Diese Bürger sind doch nur das Schlachtvieh, bestenfalls das sklavenhafte Humankapital der großen Industriellen. Die sind es, die den Weg und den Takt vorgeben. Nur allzu sichtbar an Merkels Haltung in Bezug auf neue CO2-Grenzwerte. Aber merkt das jemand? Die Medien berichten ein bisschen darüber, ein paar Leute merken an, dass das schon seltsam aussieht – und das war es dann. Thema durch. Heutzutage braucht man sich als Volksverräter ja nicht einmal mehr zu verstecken oder seine Handlungen zu vertuschen. Weil die bräsige RTL-Masse einfach nichts mehr checkt. Nichts! Da könnte man manchmal der „Elite“ fast zustimmen, wenn sie die Masse eben als sklavenhaftes Humankapital klassifiziert – von der intellektuellen Reichweite kommt das ja erschreckenderweise sogar hin. Aber so einfach ist es nicht, weil dieser Zustand bewusst erhalten wird. Und an dieser Stelle wird es abartig und bösartig. Hier geht unsere Gesellschaft einen – meiner Meinung nach – sehr gefährlichen Weg. Denn Pluralität, Vielfalt und echte Partizipation sind in jedem Fall sehr viel wertvoller und auch sicherlich innovativer und innovationsfördernder, als eine zweigeschichtete, abgegrenzte Gesellschaft aus Angst, Neid und falscher Sehnsüchte.
Die Methoden, wie die untere Seite dieser Gesellschaft bei Laune gehalten wird, indem man ihnen vormacht, ihr Leben habe nur einen Sinn, wenn sie ein großes Auto fahren – größer als das des Nachbarn – und wenn sie einen in dieser Gesellschaft hochanerkannten Beruf ausüben, wenn sie rund um die Uhr arbeiten, wenn sie fleißig sind bis zur Belastungsgrenze, wenn sie sich mit anderen über das Neueste im Fernsehen unterhalten können… blablabla, diese Methoden haben System. Man ist unzufrieden. Immer. Zumindest ein bisschen. Man will immer irgendwie mehr. Und mehr gibt es, wenn man noch fleißiger ist, wenn man sich dem System noch mehr verdingt. Wir sind Sklaven. Und wir merken es nicht einmal. „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ (Johann Wolfgang von Goethe).
Und die innere Struktur dieser unsichtbaren Repression wird ganz schemenhaft angedeutet durch eben die jüngsten Enthüllungen über die NSA-Spionage. Vor ein paar Tagen habe ich unter einem der entsprechenden Artikel einen Leserkommentar entdeckt, der in den Raum warf, dass Deutschland als Exportmeister und viertgrößte Volkswirtschaft natürlich ein „Gegner“ der U.S.A. ist – besser und treffender gesagt eben Gegner der dahinter stehenden Wirtschaft. Also der eigentlichen Macht. Denn Freund und Feind wird auf dieser Welt kaum noch nach Ideologie ausgesucht. Dafür interessiert man sich heutzutage ja irgendwie gar nicht mehr. Freund und Feind in diesem Sinne gibt es im Grunde auch gar nicht. Es gibt nur Sklave und Feind. Und Deutschland ist natürlich in gewisser Weise beides – aber als vergleichsweise unabhängige und starke Wirtschaftsmacht eben sehr viel mehr Feind. Und Feinde werden ausspioniert. Am Ende geht es überall und immer nur ums Geld. Bzw. auch hier besser und treffender gesagt um die Gier danach. Denn Geld an sich ist ja nichts negatives. Es ist der Umgang damit und der Umgang mit den Mitmenschen in Bezug darauf.
Ich frage mich, was es jetzt noch an Beweisen braucht, um diese Systematik noch deutlicher, noch offener zu zeigen. Wir leben längst in einer postmodernen Welt der Plutokratie. Wir sehen typische Zeichen dafür: in Stuttgart lassen die demokratisch legitimierten Volksvertreter ihre Bürger von der Polizei vermöbeln, um ein Projekt durchzudrücken, hinter dem in allererster Linie wirtschaftliche Interessen stehen. In Frankfurt werden ebenso die demonstrierenden Bürger umgeballert, die sich besorgt um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gegen den entartenden Kapitalismus stellen. Wer schützt hier denn wen? Wer sollte hier wen schützen?
Entlarvend wird in den kommenden Tagen sein, welche Reaktionen sich unsere sogenannten Volksvertreter so einfallen lassen. Und es geht nicht um verbale Reaktionen, sondern um Taten. Denn dreist gelogenen Unfug labern können die Gestalten der aktuellen Bundesregierung ja bewiesenermaßen ganz hervorragend. Ich bin gerade sehr gespannt auf den Moment, in dem Merkel offenbaren muss, dass sie schon lange nicht mehr auf der Seite des Volkes steht, für das sie einen Eid abgelegt hat. Ein Eid, der auch das Papier nicht wert ist, auf dem er steht, wenn sie keinerlei Konsequenzen zu fürchten hat, wenn sie ihn mutwillig ignoriert.
Unsere Gesellschaftsform ist alt und krank. Und inzwischen sind es nur noch Maschinen, die diese Leiche warm halten… es könnte nur sein, dass das noch lange funktioniert. Eine – ehrlich gesagt – ausgesprochen entsetzliche Vorstellung!